Fatale politische Visionslosigkeit

von Sebastian Bluhm

Ich habe lange nachgedacht, ob ich wirklich einen Artikel mit einem politischen Thema schreiben sollte. Dies wollte ich eigentlich immer vermeiden. Jedoch halte ich die aktuelle Situation für historisch und denke, dass wir viel zum Thema Vision, Werte, Verantwortung und Führungskultur lernen können. 

Deutschland 2021 – Perspektiven?

Fast ein Jahr befindet sich Deutschland nun in einem gesellschaftlichen Dämmerzustand. Lockdown folgt auf Lockdown, Kurzarbeit wurde zum Dauerinstrument und Homeoffice und Homeschooling zur obersten Bürgerpflicht. Das Bringen von Opfern und Entbehrungen kann eine Gesellschaft sogar näher zusammenbringen und weiterentwickeln. Nur ohne positive Perspektiven und mutmachende Führung setzt irgendwann die Erschöpfung und Hoffnungslosigkeit ein. Das Schüren von Angst und die Verschärfung von rechtlichen Maßnahmen nutzt sich ab und die Wirkung sinkt stetig. Obwohl der erste zugelassene Corona-Impfstoff sogar in Deutschland entwickelt worden ist (eine großartige und historische Leistung vom Biontech Gründer Uğur Şahin und seinem Team), schafft es die Politik nicht positive Perspektiven zu vermitteln. 

Doch wie konnte es zu einer solchen kollektiven politischen Perspektivlosigkeit kommen?

„Wer keine Vision hat, vermag weder große Hoffnung zu erfüllen, noch große Vorhaben zu verwirklichen.“

Woodrow Wilson (1856 – 1924), 28. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika

Was ist die Vision für Deutschland?

Eine Vision ist ein motivierender, bildlich greifbarer und positiv formulierter zukünftiger Zustand, den eine Organisation oder Gesellschaft erreichen möchte. 

Für Unternehmen und Organisationen ist ein Leitbild ein wichtiges Element für die Etablierung und Weiterentwicklung einer vitalen Unternehmenskultur. Wenn man gedanklich nun einige Etagen höher geht, stellt sich die Frage zur Vision für Deutschland. Ich stelle mir bereits viele Jahre die Frage, wofür Deutschland steht und welche Vision es für Deutschland gibt. Die traurige Antwort lautet leider: „Es gibt keine Vision.“ Ende der Geschichte.

Eine gute Vision schafft den Glauben an eine bessere Zukunft und schenkt Hoffnung auf dem Weg dorthin.

Große Visionen, wie die von John F. Kennedy mit dem Ausruf der ersten Mondlandung, schaffen noch größere gesellschaftliche Ziele und können damit wahre Wunder bewirken. Dazu muss man wissen, dass es zu diesem Zeitpunkt keinen Plan oder Wissen für die Umsetzung der Mondmission gegeben hat.

Martin Luther King sagte in seiner berühmten Rede einmal „I have a dream“, er sagte bewusst nicht „I have a plan“ (dann wäre er ggf. Deutscher gewesen). 

Kultivierte Visionslosigkeit

Ohne eine (starke) Vision fehlen auch ambitionierte Ziele und der Mut zur Umsetzung. Das Ergebnis ist sicherheitsorientiertes Mittelmaß. Genau nach diesem Rezept wird jetzt 20 Jahre verfahren und dies als Erfolgsgeschichte verkauft. Wenn man auf das Ergebnis in einzelnen Bereichen schaut, stellt sich Ernüchterung ein:

  • Außenpolitik: Deutschland ist außenpolitisch bestenfalls Mittelmaß, ein ständiger Sitz im Weltsicherheitsrat auf Jahrzehnte außer Sicht. Die Europäische Union wirkt wie eine bürokratische Schicksalsgemeinschaft.
  • Bildung: Das Bildungssystem stellte sich in der Corona-Krise als digitaler Vollschaden heraus.
  • Digitalisierung: Gesundheitsämter nutzen Faxe als Speerspitze der technischen Innovation, Infektionsketten können nicht skaliert nachverfolgt werden. Die Coronawarnapp kann bis heute keinen Mehrwert (außer für die Produzenten) generieren.

Leider herrscht schon viele Jahre eine politische Rationalität, die frei von mutigen Visionen und ambitionierten Zielen ist. Die Kraftlosigkeit wird im Handeln von Kanzlerin Angela Merkel deutlich. Sie gilt als extrem analytisch und rational und hat immer den Blick auf Wahrscheinlichkeiten und wissenschaftliche Grundlagen. In der Pandemie zeigt sich dies in der engen Abstimmung mit der Wissenschaft und sehr vorsichtigen Handlungen. Wissenschaft selbst lernt aber immer von den Ereignissen und hängt dem Geschehen hinterher, es geht um das Verstehen und Erklären von bereits erfolgten Ereignissen.

Eine Vision könnte den unbedingten Willen zum Lösen der Krise manifestieren, Hoffnung spenden und alle gesellschaftlichen Akteure vereinen. Stattdessen überbieten sich die politischen Verantwortlichen und Experten eher in pessimistischen Szenarien und zermürben mit permanenten Kurswechseln die Moral der gesamten Bevölkerung. Doch warum immer so negativ?

 „Eine Vision ohne Handlung ist ein Tagtraum. Handeln ohne Vision ist ein Alptraum.“

Japanisches Sprichwort

Mutlosigkeit und German Angst

Ich hatte schon einmal in einer Podcastfolge den Begriff der „German Angst“ thematisiert. Das Zögern und Abwarten wird uns als deutscher Charakterzug zugesprochen, sicher etwas pauschal, aber dennoch wohl nicht zu Unrecht.

Deutschland möchte keine Fehler machen, alle Schritte sollen vorab zigfach geplant, kontrolliert und überprüft werden. Erst dann geht man an eine Umsetzung, um 100% sicher gehen zu können. Mit Fehlerkultur (gemeint ist das Lernen aus Fehlern, nicht das Vertuschen bzw. Kleinreden) und Agilität im Jahr 2021 hat dies wenig zu tun. Sicherlich ist dies auch eine Frage der Prägung und Einstellung, historisch ist das obrigkeitshörige Sicherheitsdenken ein wichtiges Element der Deutschen DNA.

  • Wir planen Impfzentren und reibungslose Abläufe. In den USA kann auch im Supermarkt geimpft werden.
  • Wir feilschen 5 Monate wie Kleinkrämer um den niedrigsten Preis. Die USA schließen Verträge und bekommen Impfstoff.
  • Wir jammern über die Impfstoffknappheit und haben 3,5 Mrd. Wertverlust mit jeder Woche Shutdown. Mutig wäre, 10 Mrd. direkt in Fabriken für Impfstoffe zu stecken und alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen.

Jahrhundertchance

Jeder Krise ist auch eine Chance, so die allgemeine Weisheit. Diese einzigartige Krise mit kaum abschätzbaren Folgen kann daher sicherlich auch Jahrhundertchance betrachtet werden. Die Grundlage des geschäftlichen Wohlstands der Bundesrepublik Deutschland wurde nach dem Zweiten Weltkrieg gelegt, wo mutige Menschen Unternehmen, Organisationen und politische Parteien gründeten.

Auch ohne eine übergeordnete gesellschaftliche Vision, sollten wir uns eigene positive Bilder für die Zukunft schaffen. Ob privat oder beruflich, jetzt ist die Zeit für frische Ideen, unkonventionelle Ansätze und mutiges Vorangehen. Dann können wir in 60 Jahren vielleicht das Jahr 2021 als Ursprung einer goldenen Epoche im Geschichtsbuch nachlesen.


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